06/09/2022

Wenn Zeit träumt. Chronik eines Zeit-Raum-Besuchers

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Ich habe Erinnerungen. Nein, nicht Erinnerungen, Eindrücke, genau so. Eindrücke, die einem Sammelsurium der Betrachtungen entstammen, manche deutlich und klar, andere etwas unscharf, wenn auch auf ihre Art vieles evozierend.

Ich kann Ihnen Ort und Zeitpunkt beschreiben, zu denen ich glaubte, diese Erfahrungen gemacht zu haben, aber ich bin weder imstande, sie auf einer biographischen Zeitachse zu lokalisieren, noch kann ich sie geographisch zuordnen. Auch wenn sie wahr sind, hege ich daher auch gewisse Unsicherheiten, was die Ereignisse anbetrifft, von denen ich jetzt erzählen werde. Wenn ich sie nicht so gut beschreiben könnte, wie ich es sogleich tun werde, so haptisch, visuell so detailliert, würde ich glauben, es habe sich um einen Traum gehandelt.

Es muss einer gewesen sein.

Der Grund dafür ist ziemlich offensichtlich, es existiert keine Spur von diesen Betrachtungen in meiner externen Erinnerung. Denn, sagen wir es mal so: Wer geht schon durch die Welt, ohne alles mit den eigenen Sichtgeräten aufzunehmen, heutzutage. Dennoch kann es nicht mein Gehirn gewesen sein, das all dies von Grund auf hervorgebracht hat, der Gedanke muss von einem Input ausgehend entwickelt worden sein.

Viel Input, ein ganzer Berg davon.

Also los: Ich werde sie geordnet und klar gedanklich formulieren, um sie mit dem globalen kollektiven Gedächtnis zu teilen. Und irgendwo muss es jemanden geben, mit einer Erklärung für mich, mit Namen, mit einem Ort, einem Warum ich all das erlebt habe. Es gibt immer jemanden mit einer Antwort. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass jene Antwort mir helfen wird.

Für das, was jetzt kommt, muss ich mich aufs Äußerste konzentrieren, haben Sie bitte etwas Geduld.

Wo Ich mich befinde

Es ist heiß, Schwüle allenthalben, es ist Sommer, Hochsommer. Früher Nachmittag, vermute ich, denn die Sonne blendet, nirgends Schatten, nicht eine einzige Wolke am Himmel. Die Hitze steigt aus dem Asphalt nach oben, so viel Asphalt rundherum. Eine Stadt, viel offener Raum, riesige Gebäude. In dieser feuchten, schweren Luft hat, was ich betrachte, unscharfe Konturen, ich befinde mich in Südeuropa.

Ich betrete den Hauseingang eines Gebäudes, gehe die Treppe hinunter, finde mich in einem Kellergeschoss wieder und verspüre endlich eine gewisse Frische. Ich gehe einen Flur entlang und betrete ein Zimmer. Dort ist niemand.

Das Zimmer ist leer, rechteckig, mit niedrigen Decken. Alles ist ordentlich, leer, sauber. Es gibt keine Möbel, das heißt nur wenige, einen Wagen aus Stahl. Stahl, ja, von weißer Farbe und kaltes Licht, das aus fluoreszierenden Neonröhren kommt und alles verschwommen ausleuchtet. Ich glaube, mir einen aseptischen Ort ausgedacht zu haben, wie in einem Krankenhaus, einen Operationssaal. Nein, das nicht.

Ein Ort, an dem alles aufgeräumt ist, katalogisiert, als handele es sich um Beweisstücke für etwas. Ein Labor? Die für die Öffentlichkeit nicht zugänglichen Räume eines Museums? Ein Hörsaal an einer Universität? Möglicherweise. Und dennoch ist da etwas in der Art, in der die Elemente angeordnet sind, die mir verrät, hier wurde nichts dem Zufall überlassen, als wäre alles hier für ein Publikum, für Besucher gedacht.

Fundstück / 1

Ich gehe zu einem Regal aus Stahl, angezogen davon, wie die unterschiedlich farbigen Objekte dort angeordnet sind: Mineralien-Gesichter unterschiedlicher Größe und Färbung. Die leuchtenden, lebendigen Färbungen der Objekte, zusammen mit einem rosafarbenen Boden, auf dem sie aufgestellt sind, hervorgehoben durch das Licht, das sie, von oben kommend, strahlend ausleuchtet, befestigt an einigen kleinen Apparaturen an der oberen Seite des Zimmers.

Alles ist sichtbar, die Bücherwand in all ihrer Wesenhaftigkeit, die Steckdosen und die Kabel der Beleuchtung, die von oben herabhängen, nichts ist kaschiert. Schnörkellos, ohne Verzierungen. Mir wird klar, dass die kleinen Lampen auf ungewöhnliche Weise fixiert sind, mit den Fixierungsfedern offen sichtbar. Ich frage mich, wer sie wohl so angebracht hat, aber dies passt vollkommen zum Gesamtkontext, das kann kein Zufall gewesen sein. Ich betrachte mir aus nächster Nähe den angemalten Strahler: Er hat einen magnetischen Sockel, der ihn auf der Stahlkonstruktion fixiert.

Ich fokussiere mich jetzt auf die ausgestellten Objekte, die Oberflächen der steinernen Gegenstände ist irgendwie bearbeitet worden, ihre kalte Beschaffenheit gemildert durch lebendiges, menschengemachtes Zutun. Steine, Gesteine, Mineralien, die, so wird mir von irgendwoher zugetragen, nichtsdestotrotz miteinander im Austausch sind, wie lebendige Materie.

Eyes 2.U, 3000K, 3W, 36°, satiniert / Krill 2.4 , 9°—70°, Roségold, mit schwarzer Magnetplatte

Krill 2.4, 3000K, 2,5W, 9°—70°, Roségold, mit schwarzer Magnetplatte / Eyes 2.U, 3000K, 3W, 36°, satiniert

Eyes 2.R, 3000K, 2,5W, 36°, weiß / Eyes 2.U, 3000K, 3W, 36°, weiß / Krill 2.4 , 9°—70°, Roségold, mit schwarzer Magnetplatte

Eyes 2.R, 3000K, 2,5W, 36°, weiß / Eyes 2.U, 3000K, 3W, 36°, weiß / Krill 2.4, 3000K, 2,5W, 9°—70°, Roségold, mit schwarzer Magnetplatte

Fundstück / 2

Mein Blick wandert von der Stahlkonstruktion zur Wand daneben.

Ein Bild. Nein, ein Foto. Ein Foto, das die künstlerische Komposition festgehalten hat.

Es ist wie nur für diesen einen Augenblick gemacht, prekär, es scheint gerade so den letzten Moment von Gleichgewicht zu erwischen, bevor alles sich in Bewegung setzt. Wie wenn die Fotografie einen bereits vergangenen Augenblick eingefangen hätte, ihn auf ewig aufgeschoben hätte. Eine Skulptur, geschaffen in eben jenem Augenblick des Fotografierens? Und danach? Wie ist es mit ihr weitergegangen? Wie geendet? Geblieben ist nur der Schnappschuss, der sie zur Ewigkeit machte.

Die fotografierten Objekte sehen anders aus als die Mineralien, die ich kurz zuvor betrachtet habe, sie sind sanft, anmutig und von lebhafter Farbe, auch wenn etwas abgenutzt durch die Jahre, oder durch die Witterung vielleicht.

Gem 2.1, 3000K, 42°, schwarz / Eyes 2.R, 3000K, 2,5W, 36°, weiß / Eyes 2.U, 3000K, 3W, 36°, weiß / Krill 2.4 , 9°—70°, Roségold, mit schwarzer Magnetplatte / Eyes 2.U, 3000K, 3W, 36°, satiniert

Gem 2.1, 3000K, 42°, schwarz / Eyes 2.R, 3000K, 2,5W, 36°, weiß / Eyes 2.U, 3000K, 3W, 36°, weiß / Krill 2.4, 3000K, 2,5W, 9°—70°, Roségold, mit schwarzer Magnetplatte / Eyes 2.U, 3000K, 3W, 36°, satiniert

Sollte es sich um eine künstlerische Darbietung handeln ist sie ziemlich einzigartig, erinnere ich mich noch, gedacht zu haben.

Die Ausstellungen, an die ich gerade denke, nutzen weniger ausgeleuchtete Umgebungen und, aus dem Schatten heraus, lassen sie das einzelne Kunstwerk durch den Kontrast heraus wirken, dank zielgenauer Beleuchtung, die das Werk wie auf einen Sockel stellt. In diesem Raum hier verbindet das gleichmäßige Licht alles Ausgestellte miteinander, statt zu isolieren, als sprächen die Werke die gleiche Sprache und als wäre die Botschaft eindeutig. In der Homogenität der allgemeinen Beleuchtung fallen mir bei dem an die Wand gelehnten Werk Schatten auf, und Lichteffekte, die von oben her durch zwei winzige Strahler produziert werden: Der Eindruck der Dreidimensionalität von jener Foto-Skulptur scheint mir betont.

Fundstück / 3

Ein kleiner Wagen aus Stahl: Dieser scheint in der Tat aus einem Operationssaal zu stammen. Ein auf eine Stange montierter Strahler, auch dieser aus Stahl, beleuchtet zwei aufgestellte Skulpturen. Kabel und Steckdosen sind auch hier offen sichtbar.

Ich betrachte mir die kleinere, ein zweifüßiger Hai, eine Kreatur halb Hai, halb Dinosaurier. Und jetzt die größere, ein Tier mit drei Köpfen: Kobrahäupter auf dem Körper eines Pferdes. Mythologische Geschöpfe?

Sie scheinen beide oxidiert, gelebt, wieder erwacht … wieder erblüht zu sein. Wieder erblüht aus einem Relikt. Da ist etwas Dunkles in ihnen, lachen Sie bitte nicht, aber wenn ich die Figuren betrachte, kann ich nicht umhin einen kleinen Stich der Nostalgie zu verspüren, für eine Zeit, in der ich Kind war und mit Figürchen spielte und meine Mutter mich aus dem Erdgeschoss zum Abendessen herunter rief… Etwas passt hier nicht zusammen: Sie scheinen antike, archäologische Fundstücke zu sein, aber sie erzählen mir von einer erst unlängst zurückgelassenen Vergangenheit, da ich ja nicht alt bin, wie können sie denn dann mit mir kommunizieren? 

Wall 7, 2W, 3000K, 25°, Chrom, 200 mm

Wall 7.0, 2W, 3000K, 25°, Chrom, 200 mm

Wall 7, 2W, 3000K, 25°, Chrom, 200 mm

Wall 7.0, 2W, 3000K, 25°, Chrom, 200 mm

Fundstück / 4

Ich begebe mich in das Innere des Zimmers. Bei der Betrachtung des Raums werde ich von einem Winkel angezogen, einer Nische.

Hier stehen auf einem Sockel schön dargeboten drei kleine Steine von verschiedene Kompositionen. In jedem der drei steckt ein Schwert, die Schwerter im Fels, aus einem so durchsichtigen, hauchdünnen Material, dass es mir unmöglich scheint, damit Steine von so massivem Erscheinungsbild auch nur geritzt zu haben. Ein für mich faszinierender Kontrast.

Ich blicke nach oben, um herauszufinden, woher das Licht kommt, das diesen Materialkontrast beleuchtet: Ein winziger Strahler, einem Chamäleon gleich weiß vor einem Hintergrund gleicher Farbe, sein Licht umhüllt von oben Kunstwerk und Sockel.

Gem 1.1, 3000K, 2,5W, 32°, weiß

Ich löse den Blick von der Skulptur, drehe mich und werfe einen letzten Blick in den gesamten Raum.

Andere Kunstwerke heischen um meine Aufmerksamkeit, ihre steinerne Konsistenz trifft auf ein hauchdünnes Element, einer Seifenblase gleich, und als würde es Leben verströmen. Und dann eine hypnotische Erzählerstimme, die diese bedrängenden Bildabfolgen begleitet; zuallerletzt ein Kunstwerk aus Bronze, auf ein Klavier gebettet.

Dann Dunkelheit, die mich umhüllt.

Abschliessende Bemerkungen

Das ist alles, was ich gesehen, berührt, gedacht habe. Ich bin erschöpft von der Anstrengung in meinem Kopf zu wühlen, um all diese Eindrücke, einen nach dem anderen auszugraben, aber ich bin sicher, dass - einmal dem globalen kollektiven Gedächtnis übereignet - diese sich in Erklärungen und Antworten verwandeln werden.

Sie erschienen mir derart eindeutig Indizien, dokumentarische Beweisstücke zu sein, die jemand geduldig gesammelt, katalogisiert und ausgestellt hat, und ebenso nachdrücklich sage ich, es ging dabei nicht um kalte Aneinanderreihungen von Artefakten und Steinen, sondern ihnen wohnte etwas Lebendiges inne, etwas Fühlendes, etwas Menschliches. Sie redeten mit mir, von etwas mir Nahem, aber es ist, als kämen sie von weit, weit her.

Das Ergebnis einer archäologischen Ausgrabung? In der Tat, aber auf was geht es zurück und aus welcher Zeit und von welchem Ort stammen die Fundstücke? Stammten sie für die Katalogisierenden aus einer zeitgenössischen Gesellschaft oder von einer vergangenen, verschwundenen? Ich habe eine Zeitkapsel betrachtet, vielleicht, eine Nachricht für die Nachwelt, für mich? Bin ich wirklich in der Zeit zurückgereist oder nach vorne?

Ich glaube nicht, dass ich auf der linearen Achse meines Zeitbegriffs eine Antwort finden werde.

Ich habe alles gesehen, Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft. Habe ich alles geträumt?

Antworten aus dem globalen kollektiven Gedächtnis

„Die Kunst und die Zeit sind stets miteinander verbunden; ein Kunstwerk kann einen temporalen Durchgang auftun, durch den Künstler die Schönheit unsterblich machen können.“ Mano Leyrado

Ausstellung: WHEN TIME DREAMS kuratiert von Mano Leyrado
Ort: THE COMPANY STUDIOS
Adresse: Via California 7, Milano, Italien
Dauer: 8/06/22 - 16/09/22
Ausgestellte Künstler:innen:
REPERTO / 1: Hunter Longe, USA
REPERTO / 2: Griffini in Tamborini, Italien
REPERTO / 3: Joshua Goode, USA
REPERTO / 4: Nicolau Dos Santos, Portugal / Stephanie Blanchard, Frankreich

Anna Zachariades, Deutschland
Flavia Visconte, Argentinien
Yunsun Kim, Korea
Julia Pereyra, Argentinien